"Du kannst den Autismus gut verstecken." - "Du wirkst so normal." -"Du bist bestimmt hochfunktionale Autistin, oder?".
Diese Sätze bzw. das "Kompliment" mag für Nicht-Autisten vorteilhaft klingen, allerdings versteckt sich dahinter wesentlich mehr Leid für den autistischen Betroffenen.
Der Wunsch "normal" zu sein
Denn 'das Außen' ist überhaupt erst der Grund, weshalb autistische Menschen ihre typisch autistischen Eigenschaften kompensieren. Sie wollen nicht unangenehm auffallen. Sie verbinden mit dem Zeigen autistischer Verhaltensweißen negative Konsequenzen. Dahinter steckt also der (verzweifelte) Wunsch genauso sein zu können, wie "alle anderen Menschen" / nicht autistische Menschen.
Was ist Masking?
Die Hochfunktionalität besteht darin, dass der autistische Mensch in der Lage ist, all seine Kraft aufzuwenden und so zu tun, als ob er oder sie, so "normal", wie neurotypische Menschen zu wirken. Es ist eine Fähigkeit der Kompensation (= Masking), die autistischen Verhaltensweisen zu unterdrücken und stattdessen neurotypische Merkmale zu zeigen. Die autistische Person verhält sich also entgegen ihrem Naturell.
Wenn nun jemand zu mir sagt, "du wirkst so normal", dann ist es ein schmerzlich schönes Kompliment: es zeigt mir, dass mein Masking sehr gut funktioniert und dass ich nicht anecke. Und gleichzeitig zeigt es mir, dass ich mir verdammt schwer tu, mein autistisches Verhalten zu zeigen.
Wie werden diese Fähigkeiten erworben?
Durch ihre sehr detaillierte Wahrnehmung, können AutistInnen ihre Umgebung sehr gut wahrnehmen und analysieren. Autistische Personen haben meist die Erfahrung gemacht, dass sie anders sind / falsch sind und möchten lernen "normal und richtig" zu sein. So zu sein, wie alle anderen. Sie lernen ihre Kompensationsfähigkeiten durch das Beobachten von Mitmenschen. Manchmal geschieht dieses Erwerben bewusst, manchmal auch unbewusst.
Vorbilder können Menschen im realen Leben sein, es können aber auch fiktive Charaktere in Serien oder Filmen sein. Wenn die beobachtete Handlung oder der Dialog für die autistische Person Sinn macht (z.B. durch das Gesagte erzielte man Erfolg in der Interaktion), wird sich die Handlung gemerkt und landet es im "Kompensationsrepertoire" mit dem Vermerk "so verhalten sich Menschen in dieser Situation". Das kann eine bestimmte Gestik sein, ein Lächeln bei einem bestimmten Signalwort, eine bestimmte Stimmlage, bestimmte Wörter.
Wie äußert sich die Hochfunktionalität / Masking?
Mit 'Hochfunktionalität' ist meistens ein Kompensationsverhalten gemeint, das sog. Masking.
Masking sind erlernte Mechanismen, die aufgrund von Wiederholung häufig irgendwann zu Automatismen werden.
Masking kann sich für jede autistische Person anders äußern.
Hier ein paar Beispiele, wie mein Masking aussah / teilweise noch aussieht:
Unterdrücken von Stimming zur Beruhigung / Stimuliweiterleitung (z.B. Wippen, Hibbeln, Summen etc.)
Sagen von Dingen, weil man weiß, dass sie gut ankommen, obwohl sie nichts mit einem selbst zu tun haben (z.B. ich mag Tanzen - eigentlich mag man es nicht, aber man weiß, dass es gut ankommt; man hat gelernt, dass es normal ist, dass viele Menschen Tanzen mag)
Wissen, welche Themen für Small-Talk / bestimmte Situationen (z.B. beruflicher Kontext) angemessen sind
Blickkontakt erzwingen
Körperberührungen zulassen, weil es der Norm entspricht (z.B. Händeschütteln, Umarmung, freundliche Berührung an der Schulter)
Teilnahme an Gruppenaktivitäten um nicht ausgeschlossen zu werden
Sich zwingen weiterhin an Gesprächen / Gruppenaktivitäten teilzunehmen, weil man nicht weiß, wie man sich verabschiedet
Sich ständig beobachten / kontrollieren / reflektieren
Ständig die Situation / die anderen Personen beobachten
möglichst angepasst / unnahbar zu wirken, um in Ruhe gelassen zu werden (Konflikte sind anstrengend und unberechenbar!)
ständiges Optimieren und Ausbauen der Kompensationsmechanismen (man wird noch besser neurotypisch zu wirken!) bei gleichzeitigem Ignorieren des eigenen Selbst
Wie fühlt sich die Hochfunktionalität / Masking an?
Kurzum: Anstrengend und depersonalisierend! Mein früheres Masking fühlte sich an, als ob man einen Personenanzug trägt. Dieser Anzug beinhaltet alles, was oben aufgezählt wurde. Mit der Zeit verschmolz er immer mehr mit mir. Es gab keine Trennung mehr zwischen mir und dem Anzug. Ich verschwand regelrecht hinter dem Anzug. Ich und der Anzug waren irgendwann eins.
Ich habe geglaubt, dass ich die Musik, von der ich sage, dass ich sie mag, auch wirklich mag (obwohl es eigentlich nicht der Fall war). Ich glaubte, alle Fähigkeiten zu können, die auch neurotypische Menschen konnten. So gut war ich darin. Dass ich immer wieder Zusammenbrüche hatte, dass es mich unglaublich viel Kraft kostete, oder dass ich diese Dinge immer nur für einen bestimmten Zeitraum beherrschte, ignorierte ich. Das durfte nicht sein. Ich musste mir dann eben noch mehr Mühe geben. Noch optimaler werden.
Seit der Diagnose versuche ich mein Masking stärker zu kontrollieren. Das klingt erst mal paradox, weil ich etwas kontrollieren versuche, was mich kontrolliert. Aber es geht darum, die Kontrolle wieder zurück zu bekommen und weniger zu maskieren und Kraft zu sparen. Wieder eine Trennung zwischen mir und dem Personenanzug zu erreichen. Mir bewusst zu machen, wann ich Masking betreibe, wann ich Masking betreiben muss und wann ich autistisch wirken "kann" und "darf". Und mir auch Zeit zu nehmen "Autistin" sein zu dürfen.
Masking ist furchtbar anstrengend! Es verbraucht unglaublich viel Energie.
Eine autistische Person, die sich komplett typisch ihrer autistischen Eigenschaften verhält, ist wesentlich gesünder, als eine autistische Person, die in der Lage ist Masking zu betreiben und als hochfunktional gilt!
Ein gesunder Umgang mit Masking
Masking bedeutet nicht unbedingt nur Schlechtes. Jedenfalls nicht für mich. Masking hilft mir eine zeitlang den Umgang mit neurotypischen Menschen zu meistern, wenn mein autistisches Ich nicht mehr in der Lage ist mit der Situation umzugehen.
Dabei achte ich immer auf folgende Punkte:
Kann / Darf ich autistisch wirken?
Kann mein Gegenüber mit meinem autistischen Ich umgehen?
Verurteile ich mich / verurteilt mein Gegenüber mich für mein autistisches Ich?
Habe ich genug Energie für Masking?
Kann ich mich nach dem Masking erholen?
Natürlich kann ich diese Punkte nicht immer korrekt beurteilen. Nicht immer weiß ich, ob mein Gegenüber gut mit meinem autistischen Ich umgehen kann. Und nicht immer weiß ich, ob ich genug Energie habe. Manchmal rutsche ich aus Unsicherheit ins Masking, aber ich habe gelernt, dass das auch in Ordnung ist, wenn es vorkommt.
Wenn ich sehr viel Energie für Masking aufgewendet habe, lege ich einen sogenannten "Autisten-Tag" ein.
An diesem Tag gelten folgende Regeln bzw. versuche diese Dinge zu machen:
Ich rede so gut, wie gar nicht und mit niemanden.
Ich brauche nichts zu kochen und keine Haushaltstätigkeiten zu machen (sondern kann mir etwas bestellten oder aufwärmen.)
Ich muss nichts entscheiden.
Ich kann meine Routinen so machen, wie ich es möchte - ohne, dass ich Kompromisse eingehen muss.
Ich kann allen Aktivitäten nachgehen, wie ich es möchte - ohne, dass ich gestört werde.
Erfassung von Masking in der Diagnostik
Masking wird leider noch viel zu wenig in der Autismus-Diagnostik erfasst. Häufig erlauben die Fragebögen keine näheren Angaben, ob und wie Masking betrieben wird. Selbst PsychiaterInnen, PsychologInnen oder ForscherInnen auf diesem Fachgebiet wissen noch viel zu wenig über autistische Kompensationsmechanismen.
Die Folge: viele AutistInnen (insbesondere weibliche Autisten) werden gar nicht oder viel zu spät diagnostiziert.
Eine Aufnahme von Fragen nach bestimmte Kompensationstechniken wäre zumindest ein Anfang.
Noch besser wäre ein Interview mit dem Diagnostiker, sodass die potenzielle autistische Person entweder ihr Masking erklären kann oder der Diagnostiker ein mögliches Masking identifizieren oder erfragen kann (siehe mein Beitrag zur Diagnostik)
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