Mein schulisches Leben verlief alles andere als klassisch. Wie viele Werdegänge von neurodivergenten Menschen. Manche Teile meiner Entwicklung verlief schneller, und andere eher langsamer. Aber beginnen wir von vorne.
Kindergarten
Ich war immer sehr neugierig. Wollte alles erkunden und erfahren. Zu Hause verlief noch alles recht normal ab, ich verhielt mich nicht sehr auffällig.
Wie alle Kinder erkundete ich meine Umwelt. Aber als ich in den Kindergarten kam, merkte ich, dass andere Kinder mir Angst machten. Ich brauchte ungewöhnlich lange, um mich einzuleben. Auf andere Kinder ging ich nie zu. Sie kamen meistens zu mir. Ich war überdurchschnittlich groß, das sorgte für Bewunderung - und Spielkameraden. Der Kindergarten war meine erste Erfahrung, wo ich mich sehr anders fühlte.
Gruppenspiele wurden Gott sei Dank wenig gespielt, und so spielte ich meistens mit einem oder höchstens zwei Kindern. Allerdings empfand ich das eher als Verpflichtung, weniger als Spiel. Für mich war es befremdlich, wie andere Kinder spielten. Belanglos. Ohne Sinn oder Regel. Oder die Spielregeln erschlossen sich mir nicht. Und meistens war mir das Spielen zu laut. Sobald die Kindergärtnerin ankündigte, dass wir draußen im Garten spielen konnten, hatte ich Angst. "Draußen" empfand ich als chaotisch. Alle Kinder schreiten, liefen umher, nichts hatte mehr eine Ordnung. Ich versuchte trotzdem, so gut ich konnte, weiterhin drinnen zu spielen.
Trotzdem ging ich noch gern in den Kindergarten, weil ich sehr neugierig war. Ich liebte die Leseecken - ging aber nur hin, wenn keiner da war. Oder meine Spielkameradin mitging. Von außen blieb ich unauffällig. Gegen Ende der Kindergartenzeit freute ich mich sehr auf die Schulzeit. Lernen liebte ich.
Grundschule
Ich hatte das Glück, dass sehr viele Kinder aus meiner Kindergartengruppe in meine Klasse in der Grundschule waren. Fast 70% der Klasse kannte ich. Ich war trotzdem sehr neugierig auf die neuen anderen Kinder und freundete mich auch mit zwei, drei neuen Kinder an.
Ich liebte die Schule, ich lernte gern. Häufig arbeitete ich vor, freute mich auf neue Buchstaben, Diktate, erste Klausuren. Lernen musste ich nie. Ich liebte es mein Wissen unter Beweis zu stellen. Aber ich begann mich weniger an Regeln zu halten (z.B. schrieb ich wie es mir passte, und hielt mich nicht an reine Schreibschrift, sondern entwickelte einen Mix aus Schreib- und Druckschrift).
Auch hatte ich ein paar Schwierigkeiten mit Sachaufgaben in Mathematik. Aber alles war vorhersehbar, dank des Stundenplans. In der Pause hatten wir feste Orte, wo meine Freunde und ich uns trafen. Nach der Schule war ich meistens aber fix und fertig. Ich war erschöpft von den vielen Eindrücken und den Interaktionen. Selten kam eine Freundin vorbei, um zu spielen. Meistens zog ich mich dann in mein Zimmer zurück und zeichnete oder las stundenlang.
Gymnasium
Mit dem Gymnasium wurde alles komplizierter. Wieder hatte ich das Glück, dass fast 40% meiner Klasse mich ins Gymnasium begleitete. Wieder freute ich mich darüber. Wieder war ich neugierig auf die neuen Kinder, die neuen Fächer und die neuen Lehrer.
Das Gymnasium stellte sich aber als extreme Herausforderung heraus. Immer wieder mussten wir das Klassenzimmer wechseln, die Schule war an sich auch viel größer, als die Grundschule. Es gab viel mehr Fächer, die ich meistens zwar sehr interessant fand, aber die eigenständige und parallele Koordination der Fächer bereitete mir große Schwierigkeiten.
Ich bekam ernsthafte Schwierigkeiten in der Schule. Und Depressionen. Das Lernen machte mir keinen Spaß mehr, ich hatte das Gefühl alles war überwältigend, zu oberflächlich oder zu sozial komplex. Ich zog mich immer stärker zurück. Zu Hause hatte ich nur noch Streit mit meiner Mutter, die mich leider nicht verstand. Meine Noten wurden so schlecht, dass ich die Schule nach der 7.Klasse verlassen musste. Ich empfand es als hochgradiges Versagen meinerseits.
Realschule
Ich besuchte die neue Realschule inkl. Anfahrtsweg, noch bevor die Schule wieder anfing. Ich musste auch eine Aufnahmeprüfung bestehen, damit ich in die 8.Klasse vorrücken durfte. Offiziell war ich durchgefallen.
Einerseits freute ich mich wieder auf die Schule, aber andererseits hatte ich Angst vor der neuen Klasse. Ich hatte zwar Glück, dass ein Mädchen aus der Parallelklasse aus dem Gymnasium ebenfalls auf diese Schule - und in meine Klasse gehen wird. Somit hatte ich wieder eine Verbündete. Die Realschule empfand ich als angenehme ruhigere Zeit, im Vergleich zum Gymnasium.
Zwar fühlte ich mich teilweise unterfordert, aber die Art des Unterrichts und die niedrigere Anzahl der Fächer, empfand ich als wesentlich leichter handhabbar. Zwar konnte ich immer noch nicht gut parallel lernen, aber das konnte ich wett machen, indem der Anspruch gesunken war. Meine Noten waren anfänglich immer noch schlecht, und ich war immer wieder kurz vor dem Durchfallen. Aber nach der 9. Klasse wurden sie immer besser.
Fachoberschule (FOS)
Nach meinem erfolgreichen Abschluss an der Realschule wollte ich nun unbedingt das Abitur nachholen. Ich begann die Fachoberschule für Technik zu besuchen, aber nach einem halben Jahr verließ ich diese wieder und landete nach mehreren Überlegungen auf der Fachoberschule für Wirtschaft und Recht. Obwohl ich alles, was mit BWL und Recht zu tun hatte ablehnte.
Ich war eigentlich passabel im Zeichnen und hatte die Aufnahmeprüfung für die Kunst-FOS abgelegt - bin aber leider durchgefallen, was unerträglich für mich gewesen war. Die Sozial-FOS hatte ich nie für geeignet für mich gehalten, da ich damals nichts im Sozialwesen machen wollte. Ich schloss die Wirtschafts-FOS mit einem grauenhaften Fachabitur (3,7) ab, da mir jegliche Motivation, Begeisterung und vermutlich die notwendige "Neurotypie" oder Intelligenz für diesen Bereich fehlte.
Ausbildung als Versicherungskauffrau
Nach dem Fachabitur überlegte ich, was ich danach machen sollte. Arbeit oder Studium? Irgendwie war ich mit dem Angebot mehr als überfordert. Meine damals beste Freundin machte eine Ausbildung als Kauffrau für Versicherungen und Finanzen. Das gute Gehalt und die vermeintliche Beratung der Menschen überzeugte mich, mich ebenfalls auf eine Stelle zu bewerben. Ich bekam eine Stelle.
Doch der Vollzeit-Job war extrem anspruchsvoll. Wieder fühlte ich mich einerseits unterfordert, doch die sozialen Anforderungen überforderten mich. Wie sollte ich mich am besten verhalten? Ich sollte Kalt-Akquise betreiben oder eigenständig Kunden anrufen. Das kostete mich extrem viel Kraft. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Also bereitete ich die Gespräche im Kopf vor.
Oft bekam ich von meinem Chef zu hören "Man sieht Sie ja kaum." Ich wusste nicht, was damit gemeint war, also lief ich ab und zu die Gänge einfach auf und ab, sodass man mich mehr sah. Solange ich irgendwo eine Anleitung erhielt, oder bei jemanden mitlaufen konnte, ging es mir noch gut. Die Berufsschule war mir am liebsten. Alles hatte seine Ordnung und wir hatten eine 30 Stunden Woche. Und ich lernte wieder.
Aber nach einem Jahr konnte ich nicht mehr. Alles war zu viel, ich hatte kaum Führung, die impliziten Erwartungen verstand ich nicht, die Anrufe kosteten mich extrem viel Kraft. Man erwartete von mir, dass ich bereits jetzt Versicherungen verkaufen sollte. Ich merkte, wie erfolglos ich war. Mein Arbeitsvertrag wurde aufgelöst.
Berufsförderungs-zentrum
Ich landete in einem Berufsförderungszentrum und erhielt Arbeitslosengeld I. Ich glaube, ein halbes Jahr war ich dort. Ich wurde einer Klasse zugeordnet und erhielt eine Betreuerin vom Arbeitsamt. Wir hatten Unterricht oder waren in Praktika. Man vermittelte uns Wissen, wie man eine gute Bewerbung schrieb und EDV Kenntnisse. Ich machte Praktika bei der Telekom und bei L'Tur. Ich fand es interessant, wieder was Neues zu lernen. In beiden Fällen habe ich mich bemüht eine gute Arbeit zu leisten, aber fühlte mich immer unwohl und sozial überfordert. Ich überlegte, wie ich hier wieder rauskam und entschied mich final Psychologie studieren zu wollen.
Studium
Mein Studium absolvierte ich an je zwei privaten Hochschulen. Ich war sehr dankbar dieses Privileg zu haben (danke an meine Eltern :-)). Ein normales Studium hätte ich vermutlich nicht schaffen können.
Die Studienzeit genoss ich sehr. Ich konnte mir endlich die Zeit nach meinen Bedürfnissen einteilen. Wir hatten einen Stundenplan, aber es bestand keine Anwesenheitspflicht. So wusste ich immer, ob ich die Vorlesungen besuchen wollte oder nicht. Mein Bachelor-Studium absolvierte ich an der Hochschule Fresenius München. Dort bestand reiner Präsenzunterricht. Auch meine Kohorte war relativ klein, wir bestanden aus ca. 30 Studierenden, die sich aber mit fortgeschrittenem Studium immer weiter ausdünnte.
Trotzdem musste ich ein halbes Jahr ein Krankkheitssemester anmelden, weil ich merkte, dass ich mich ausgebrannt fühlte. Mein Master-Studium absolvierte ich an der DHGS in Berlin. Das Studium war ein semi-virtuelles Studium, welches teilweise aus präsentem und teilweise aus virtuellen Vorlesungen bestand. Für mich war es das ideale Lernformat: ich lernte größtenteils autodidaktisch, zu meinen Bedingungen, in meinem Tempo und konnte im Präsenzunterricht Fragen stellen. Ich brauchte trotzdem länger, als meine Kommilitonen, weil ich nicht für fünf Prüfungen gleichzeitig lernen konnte. Mein Maximum waren drei Klausuren parallel. Ich schob meistens zwei Prüfungen auf das Datum der Nachholklausuren und absolvierte diese dort nachträglich. Den Master schloss ich im März 2021 mit einem sehr guten Abschluss ab, worauf ich sehr stolz bin.
Praktika und Werkstudentenjobs
Während meines Studium wollte ich unbedingt in verschiedene Arbeitskontexte reinschnuppern. Ich absolvierte Praktika und Werkstudentenjobs u.a. bei der LMU München in der Forschung, in der Neuropsychologie, in zwei Verlagen, in der Forschung der Medienpädagogik, im HR, in einem Start Up und in der Beratung im Medical Health.
Mir war es wichtig, Orientierung zu bekommen, wo ich später mal hinwollte. Und ich interessierte mich für viele Themen und war neugierig diese in der Praxis zu erleben. In den meisten Fällen hielt ich es dort aber nicht allzu lange aus. Heute weiß ich, dass ich unglaublich stark maskierte und mir einfach die Kraft ausging. Ich hatte häufig Angst und Panik, die ich unterdrückte und einfach so tat, als ob alles "normal" wäre. Meistens bekamen meine Arbeitskollegen und Chefs nichts davon mit. Fachlich lieferte ich immer gute Arbeit und meine Arbeitszeugnisse waren meist sehr gut.
Erste Festanstellung
Meine erste Festanstellung trat ich im Mai 2021 an, nachdem ich ein starkes Burn-Out bereits während des Masterstudiums erlitten hatten.
Es war kein einfacher Start. Ich war stark verunsichert, ob ich überhaupt eine Vollzeitstelle schaffen würde. Trotzdem bewarb ich mich auf Vollzeitstellen und hatte insgesamt drei Vorstellungsgespräche. Während dieser Zeit hatte ich bereits den Verdacht im Autismus-Spektrum zu sein. Ich merkte immer mehr, dass ich keine Vollzeitstelle als Psychologin schaffe, da dies zu viel Interaktion erforderte.
So entschloss ich mich für einen fachfremden Bereich. Ich bewarb mich auf eine Marketing-Trainee-Stellez in Vollzeit. Ich liebte es kreativ zu sein und hatte bereits in meinem letzten Werkstudentenjob im Start-Up Marketingerfahrungen sammeln können. Das Unternehmen war eine Unternehmensberatungsfirma und verfolgte einen systemischen Ansatz. Mir gefiel es, zumindest inhaltlich noch mit psychologischen Themen zu arbeiten. Insgesamt fanden 3 Bewerbungsgespräche zu der Trainee Stelle statt.
Nachdem ich eine Zusage hatte, merkte ich, dass eine Vollzeitanstellung immer noch nicht möglich war. Ich telefonierte mit meinem Chef und erklärte ihm meine Burn-Out Erfahrung. Wir einigten uns auf eine 30 Stunden Woche. Ich war sehr erleichtert und dankbar. Aus mehreren Gründen schaffte ich eine 30 Stunden Woche auch nicht und so wurden zunächst nur 10 Stunden, dann wieder 16 Stunden vereinbart. Im November 2021 erhielt ich meine Diagnose, die ich ebenfalls meinem Chef mitteilte und worauf ich viel Verständnis erhalten habe.
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