In der autistischen Community ist Masking der geläufigste Begriff. In der Autismus-Forschung wird von Camouflage gesprochen - und noch älter ist der Begriff "Hochfunktional".
Alle meinen aber das Gleiche: das Unterdrücken der autistischen Eigenschaften und Verhaltensweisen und das Zeigen von untypischem neurotypen Verhalten. Es ist ein anstrengender und kräftezehrender Mechanismus, der sowohl Vorteile mit sich bringt, aber auch große Nachteile. (In meinem anderen Beitrag schreibe ich darüber, warum der Begriff "hochfunktional" problematisch ist.)
Bereits im Kleinkindalter entdecken manche AutistInnen , dass sie "anders" sind. Viele machen die Erfahrung, dass sie durch ihr Anderssein ausgegrenzt oder gemobbt werden.
Was heißt überhaupt "Anderssein" und warum unterdrückt man es?
Mit dem Anderssein ist vor allem die Wahrnehmung, die Art und Weise der Kommunikation und Interaktion sowie das Verhalten autistischer Menschen gemeint. Hier gibt es Unterschiede: je nach Ausprägung des Autismus fallen manche autistische Menschen deutlicher auf, während "unsichtbare" autistische Menschen nicht so schnell auffallen, weil sie ihre Fähigkeit der Beobachtung und des schnellen Adaptieren von Verhaltensweisen, ihr Verhalten bereits im Kindergartenalter gelernt haben anzupassen. Ab diesem Alter kann also Masking schon beginnen. Im Erwachsenenalter sind die Masking-Fähigkeiten aufgrund von Erfahrungen meist schon ausgeprägter.
Beispiele für "Anderssein" (autistischer Erwachsene)im Job:
Wunsch nach Perfektion (z.B. keine Abgabe von unfertigen Arbeiten)
Wunsch nach klarer Kommunikation (z.B. fragt daher öfter nach genaueren Angaben nach)
Kaum oder wenig Interesse an Gruppen (z.B. Weihnachtsfeiern in der Firma)
Schwierigkeiten mit Multitasking (z.B. schnelle Überforderung)
Schwierigkeiten mit Small Talk / geht diesem aus dem Weg
Schwierigkeiten sich zu integrieren
Zwei ausführlichere Beispiele:
Wunsch nach Perfektion
Viele autistische Menschen führen ihre Arbeit sehr gewissenhaft durch. Manche identifizieren sich mit ihrer Arbeit. Andere sehen ihre Arbeit nur als Weg um Geld zu verdienen. Ich gehöre leider zur ersten Kategorie: meine Arbeit ist irgendwie in Teil von mir, was ich nach bestem Wissen und Gewissen mache. Wenn ich etwas anfange, soll das Produkt (z.B. ein Text) nach Möglichkeit den damit verbundenen Regeln und meinem eigenen Empfinden entsprechen.
Masking:
Häufig reicht es den Vorgesetzten oder den Kollegen, wenn das Produkt nur zu 75% fertig ist. Gründe sind wenig Zeit oder "Agilität", d.h. man muss flexibel bleiben, weil etwas anderes dazwischen gekommen ist. Für mich beginnt hier Masking. Würde ich an dieser Stelle anfangen mit den Kollegen zu diskutieren, dass das Produkt noch nicht fertig ist, würde ich als unbeliebt gelten und es würden weitere soziale Konsequenzen für mich folgen, die nicht absehbar sind. Ich wäge hier ab: gebe ich ein Produkt ab, dass ich eigentlich nicht nach bestem Wissen und Gewissen gemacht habe und habe dann meinen Frieden. Oder fange ich eine Diskussion an, wo ich weitere Folgen nicht absehen kann und es mich unnötig viel Energie kostet. Meist entscheide ich ich für meinen Seelenfrieden und nehme in Kauf, dass ich nicht komplett hinter dem Produkt stehe. Das löst meist Chaos oder Unzufriedenheit aus.
Wunsch nach klarer Kommunikation
Neurotype Menschen kommunizieren meist sehr unpräzise und verlassen sich auf einen gemeinsamen, nicht von Außen erkennbaren Konsens, der sich aus nonverbalen sozialen Regeln, kleinen Signalwörtern und Erfahrung zusammensetzt. Für autistische Menschen ist dieser Kommunikationsstil häufig sehr anstrengend, da er zu viel Interpretationsspielraum, zu wenig Informationen und zu wenig Anleitung beinhaltet.
Masking:
Für mich ist dieser Kommunikationsstil extrem anstrengend. Masking fängt für mich da an, dass ich die aufkeimenden Ängste und den Stress bei unklarer Kommunikation versuche zu unterdrücken. Ich versuche Energie aufzuwenden, bei der Person die fehlenden Informationen nachzufragen und hoffe, dabei dass ich nichts Relevantes übersehen habe. Oft kann ich nicht unterscheiden, ob es berechtigte Fragen (d.h. grundsätzliche Informationen fehlen) sind oder nur mein autistisches Sein, dass mit dem Kommunikationsstil nicht zurecht kommt. Diese Frage stelle ich mir, um vorhersehen zu können, wie mein Gegenüber reagieren könnte. Wenn ich keine Energie zum Nachfragen habe, suche ich zunächst Möglichkeiten, ob ich mir die Fragen auch ohne direkte Kommunikation beantworten kann.
Warum betreiben AutistInnen nun Masking?
Das Hauptziel ist der Wunsch dazuzugehören. Nicht alleine zu sein. Nicht ausgegrenzt zu sein. "Normal" zu sein. Nicht verurteilt oder abgewertet zu werden. Den meisten AutistInnen fällt auf, dass sie anders sind. Manchen fällt es erst durch eine unerwartete Reaktion des Gegenübers auf. Andere spüren es oder wundern sich, während sie neurotype Menschen auf ihr Verhalten hin beobachten, Serien schauen oder mit neurotypen Menschen interagieren. Die autistische Wahrnehmung, das autistische Erleben, die autistische Kommunikation unterscheiden sich von neurotypen Menschen. Autistisch sein bedeutet zu einer Minderheit zu gehören. Evolutionär bedingt werden Minderheiten meist ausgegrenzt. Alles was anders ist, wird entweder misstrauisch betrachtet oder aus Angst direkt gemieden / verachtet. Anders-Sein / Fremd-Sein beinhaltet die potenzielle Gefahr, dass man nicht einschätzen kann, ob es gefährlich ist oder nicht. In der Steinzeit hatte dieses Verhalten die Funktion den Stamm vor Unbekannten zu schützen. Wir Menschen tragen nach wie vor diese Gene in uns, was erklärt, weshalb Menschen so reagieren. Das bedeutet aber nicht, dass nun jeder neurotype Mensch jedem autistischen Menschen feindselig gegenübersteht. Es gibt wunderbare verständnisvolle neurotype Menschen :-) Aber es erklärt den Ursprung dieser Verhaltensdynamik.
Kann nun jede autistische Person Masking?
Ich glaube - und das ist nur meine Meinung - , dass dies von folgenden verschiedenen Faktoren abhängt:
Grad des Wunsches nach Anpassung und Zugehörigkeit
Emotionale Sensibilität
Beobachtungsfähigkeit
Adaptionsfähigkeit
Intelligenz
Der Grad des Wunsches nach Anpassung und Zugehörigkeit meint, wie sehr überhaupt der Wunsch besteht, sich an Gegebenheiten oder soziale Konstrukte anzupassen oder wie sehr das Bedürfnis nach sozialen Kontakten besteht.
Emotionale Sensibilität meint, wie stark jemand von äußeren Reaktionen oder Gegebenheiten emotional betroffen ist und reagiert.
Beobachtungsfähigkeit meint die Fähigkeit andere Menschen auf ihr Erleben und Verhalten hin beobachten zu können.
Adaptionsfähigkeit ist die Fähigkeit sozial erwünschtes Verhalten in das eigene Verhaltensrepertoire aufnehmen zu können.
Mit Intelligenz ist vor allem die Verarbeitungsgeschwindigkeit und Umsetzungsfähigkeit von Beobachtung und Adaption.
Meine Theorie
Allem geht voran: Autist ist nicht gleich Autist. Jede autistische Person ist verschieden, was bedeutet, das die Stärken und Schwächen, die mit Autismus einhergehen verschieden ausfallen. Das bedeutet, dass ebenso das Masking mannigfaltig aussehen kann. Grundsätzlich muss bei Masking aber der Wunsch nach Anpassung und sozialer Zugehörigkeit vorliegen. Gerade bei AutistInnen, die stark ausgegrenzt wurden und emotional sensibel sind, kann dieser Wunsch stark ausgeprägt sein.
Sie sind eher vulnerabel und leichter kränkbar und hinterfragen meist irgendwann ihr autistisches Sein ("Warum bin ich so anders? Was ist mit mir?").
Sie fangen an ihre Umwelt zu beobachten, schauen sich gezielt Verhaltensweisen von sozial erfolgreichen Menschen ab und versuchen diese Verhaltensweisen in ihr Verhaltensrepertoire aufzunehmen.
Je schneller sie lernen sozial erfolgreiche Menschen zu identifizieren, ihr Verhalten zu beobachten und es in ihr Verhaltensrepertoire aufzunehmen, um nicht anzuecken, um die Chancen zu erhöhen gemocht zu werden, desto "unsichtbarer" wird ihr Autismus.
Sehr häufig kann sich dieser Prozess unbewusst entwickeln. Gerade viele nicht-diagnostizierten AutistInnen haben ohne aktives Bewusstsein Masking-Fähigkeiten entwickelt, um "funktional" zu bleiben.
Wenn nun der Faktor Intelligenz berücksichtigt wird, kann der Autismus nahezu komplett unsichtbar werden. Gerade sehr intelligente autistische Menschen schaffen es -fast immer unbewusst - durch ihre schnelle Verarbeitungsgeschwindigkeit von Informationen ihre Unzulänglichkeiten und ihr Anderssein zu kompensieren. Sie beobachten das Verhalten anderer, reflektieren, lernen und wenden erfolgreiche Strategien in sehr kurzer Zeit an. Sie können ihre Strategien und deutlich schneller anpassen und haben meist über die Jahre ein großes Repertoire an Maskingfähigkeiten erlernt, auf das sie automatisch zugreifen können.
Zusammengefasst...
Theoretisch kann also jede autistische Person Masking betreiben. Es hängt lediglich von den oben genannten Faktoren ab, wie stark dieses Masking ausgeprägt ist und wie gut es funktioniert. Denn Masking kann auch jede nicht-autistische Person. Jeder Mensch betreibt es, um gemocht zu werden. Aber autistische Menschen beherrschen es wesentlich umfangreicher, da sie große Anteile von ihrem autistischen Sein unterdrücken und neurotypisches Verhalten hervorrufen. Der Grad ist damit wesentlich stärker als bei neurotypem Masking.
Die wichtige Frage dabei ist, und die betrifft auch nicht-autistische Menschen, wie stark ist die Abweichung vom Masking-Selbst vom authentischen Selbst?
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